Vor einer Weile hatten wir die Gelegenheit mit Nadja Müller zu sprechen. Sie kommt aus Dresden und ist damals kurz nach der Wende mit ihrer Familie nach Singapur ausgewandert. Von ‘91 – ’93 war sie an der GESS (zu der Zeit noch DSS) und erzählt uns in ihrem Interview, was sie als Zweit- und Drittklässlerin an der GESS und in Singapur erlebt hat.
Wie ging es nach deiner Zeit an der GESS für dich weiter?
Als wir in der dritten Klasse Singapur verlassen haben, sind wir zurück nach Dresden gegangen und ich bin tatsächlich auch in meine alte Grundschulklasse, in der ich in der ersten Klasse war, zurückgekommen. Ein Jahr lang habe ich alle genervt mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen, die ich in Singapur gemacht habe. Danach bin ich aufs Gymnasium gewechselt und habe mit Deutsch und Chemie im Leistungskurs dort nach 12 Jahren meinen Abschluss gemacht. Nach der Schule habe ich ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht. Ich war in Sachsens größtem Naturschutzgebiet, in der Königsbrucker Heide, ein altes Truppenübungsplatzgelände. Dort gab es die ersten Berührungspunkte zu dem, wofür ich mich schließlich beruflich entschieden habe. Ich war in der Gebietsbetreuung und habe geschaut wie die Natur sich wieder entwickelt, wenn der Mensch dort nicht mehr eingreift und Dinge laufen lassen lässt. Ich habe viel zur Bildung für nachhaltige Entwicklung mitgemacht, also wie man entsprechendes Wissen vermitteln kann, habe Besuchergruppen übers Gelände geführt und war auch Sprecherin des FÖJ-Jahrgangs. Ich glaube, das ist ein Wesenszug von mir, der sicher auch von meiner Zeit in Singapur geprägt wurde. Das Selbstbewusstsein, mich irgendwo hinzustellen und Leuten Dinge zu erzählen, habe ich damals schon entwickelt.
Im Anschluss habe ich klassische Biologie studiert und zwischen 2003 – 2009 mein Diplom gemacht. Außerdem war ich für einen Forschungsaufenthalt ein halbes Jahr in Spanien, an der Universität in Salamanca. Ich habe dort in der medizinischen Fakultät mitgeforscht, Spanisch gelernt und interkulturelle Kompetenzen in einem anderen Kulturkreis als Asien oder Deutschland entwickelt. Aber irgendwie bin ich immer in Dresden geblieben. Nach dem Studiendiplom habe ich direkt mit meiner Promotion in Biologie weitergemacht, bin also naturwissenschaftlicher Doktor und war an der Uniklinik in Dresden in der Krebsforschung. Ich war in der neurochirurgischen Forschung und habe mit einer Immuntherapie versucht Glioblastome, eine besonders aggressive Art von Hirntumoren, zu bekämpfen, indem ich körpereigene Immunzellen optimiere und ihnen neue Rezeptoren einpflanze, damit sie die Krebszellen besser finden und abtöten können. Das war mein Forschungsthema, ich habe aber relativ schnell festgestellt, dass ich keine Wissenschaftlerin in dem Sinne bin, dass ich mich dreißig Jahre lang an einem bestimmten Thema festbeißen und das bis ins allerletzte Detail erfahren und erforschen möchte. Ich habe mich dann daran erinnert, was ich auch schon im Grundstudium gemacht habe. Ich war in der Amnesty International Hochschulgruppe aktiv und habe ganz viel Veranstaltungsorganisation, Standaktionen, Interaktionen mit Menschen geplant. Das hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, mit Menschen zu interagieren, direktes Feedback zu kriegen und das Gefühl zu haben, auch direkt etwas bewirken zu können. Macht man in der Forschung natürlich auch, aber das ist halt mit einer sehr langfristigen Perspektive und irgendwie hat mich das nicht glücklich gemacht. Ich brauche das direkte Feedback, das direkte Gespräch mit Menschen und habe deshalb einfach allen in meinem Umfeld erzählt „Ich bin bald fertig mit der Promotion, ich möchte dann aber was anderes machen und wenn ihr irgendwas wisst, dann sagt Bescheid“.
Netzwerken ist auf jeden Fall immer eine gute Idee. Über Zufälle und Netzwerke habe ich seit 2009 eine Nebentätigkeit. Ich verkaufe für Bands aus Dresden und inzwischen auch aus Hamburg Merchandise, bin also Crew-Mitglied und war zum Beispiel – und das ist mega krass, deshalb muss ich das allen erzählen – schon zweimal auf Tour mit Iron Maiden. Und dieses Jahr war meine Band sogar beim Eurovision Song Contest. Wir hoffen, irgendwann auch mal in Asien zu touren. Das wäre fantastisch!
Und wiederum über Kontakte habe ich in 2014 bei Sukuma arts e.V. in Dresden als Projektkoordinatorin angefangen. Wir machen Bildungsarbeit für nachhaltige Entwicklung in verschiedenen Projekten mit verschiedenen interaktiven und kreativen Methoden, um Menschen dafür zu sensibilisieren, was ihr eigenes Leben, ihr eigenes Konsumverhalten für globale Auswirkungen hat. Das klingt im ersten Moment so komplett ab vom Schuss von der Biologie, aber natürlich gibt es immer eine Quervernetzung. Nachhaltigkeit ist auch ein Thema, was in der Biologie relevant ist und Netzwerke und Symbiosen findet man da genauso. Diese Arbeit macht mir total viel Spaß und deshalb bin ich da auch hängen geblieben und habe verschiedene Projekte entwickelt oder weiterentwickelt. Inzwischen bin ich stellvertretende Geschäftsführerin und verdiene mir da mehr oder weniger meinen Lebensunterhalt. Zum Ende des Jahres – nach fast 10 Jahren – werde ich den Verein verlassen. Ich habe noch einmal angefangen zu studieren und werde als selbständige Nachhaltigkeitsmanagerin Unternehmen und insbesondere die Kulturszene dabei unterstützen, sich zukunftsfähig aufzustellen und nachhaltig zu wirtschaften. Wir haben nur diesen einen Planeten. Und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass die Große Transformation gelingt, vor der wir als globale Gemeinschaft stehen.
Und ich habe ein Corona-Hobby, das auch nochmal den Bogen zurück zur Biologie spannt: Ich hatte schon immer so ein bisschen ein Faible für Kräuter und für Heilpflanzen und habe deshalb letztes Jahr eine 1 ½-jährige Ausbildung zur Phytotherapeutin gemacht. Jetzt biete ich Workshops zur Verarbeitung von Heilkräutern an. Das ist ein Herzensthema, das mir viel Freude macht.
Woran erinnerst du dich am liebsten, wenn du an deine Zeit an der GESS/DSS zurückdenkst?
Ich habe tatsächlich ein bisschen über die Frage nachgedacht, um das alles wieder hochzuholen, denn das ist ja alles wirklich lange her. Ich habe mit Erschrecken Anfang diesen Jahres festgestellt, dass das 30 Jahre sind, oh mein Gott!
Aber natürlich sind das auch sehr prägende Jahre gewesen – ich war 7 – 9 Jahre alt. Da saugt man alles an Erfahrungen und Erlebnissen auf wie so ein Schwamm. Ich war im Chor bei Frau Stiehl. 1993 haben wir ein Musical aufgeführt – Seefahrt nach Rio – und ich habe immer noch mein T-Shirt davon.
Woran ich mich auch sehr gerne erinnere: Ich war bei Herrn Schröder in der Klasse, der damals die zweite Klasse leitete. Und wir hatten eine tolle Klassenfahrt nach Sentosa, wo wir Kinder auch alle zwischendurch irgendwie verschwunden waren. Aber Herr Schröder hat seinen Schüler/-innen ein echt starkes Vertrauen entgegen gebracht. Und wir haben eine Nachtwanderung am Strand gemacht, bei der wir alle total Angst vor den Krabben hatten. Das war sehr lustig.
Ich erinnere mich auch gerne an die Busfahrten mit Mr. Lee. Damals gab es ja noch den Schulbus. Es gab viele schöne und verbindende Momente, wenn wir alle gemeinsam da im Bus waren. Wir haben Rülpswettbewerbe veranstaltet, Hausaufgaben gemacht und einfach eine coole Zeit in dem Bus verbracht.
Der Campus damals war super grün, direkt am Dschungel. Wir hatten Fridolin, den Schulaffen, und die anderen Makaken, die da rumgesprungen sind und regelmäßig im Forum die Taschen geklaut haben, wenn man nicht aufgepasst hat. Er hat die Taschen aufgemacht und Cola rausgeholt– Fridolin hat Cola getrunken. Es gab auch so ein Riesengleitfliegerweibchen, das damals noch der Schulleiter, der Herr Lechner, aus dem Kindergarten entfernt hat. Unter Einsatz seines Lebens und mit verletzten Fingern. Und ich glaube, es war Herr Prenzlauer, der irgendwann mal mit dem Wasserschlauch die Affen vom Geländer verjagen musste, weil wir nicht mehr aus den Klassenzimmern raus gekommen sind, weil da eine Meute Affen vor der Tür saß. Wir waren halt direkt am Dschungel.
Was vermisst du am meisten an Singapur und an deinem Leben hier?
Also ich weiß noch, dass ich wirklich beeindruckt war und die Jahre danach allen, die es hören wollten oder auch nicht, von meinen Erlebnissen in Singapur erzählt habe und wie toll das war. Rückblickend war es besonders dieses krasse Gefühl von Verbundenheit. Es war total schön, dass man auch als kleine Zweit-/Drittklässlerin von den Großen immer an die Hand genommen wurde und eingebunden war. Es gab dieses Gemeinschaftsgefühl. Die Lehrer/-innen waren total toll, fördernd, offen, vertrauensvoll und man hatte wirklich ein schon fast familiäres Verhältnis miteinander. Und obwohl es die deutsche Schule damals ja schon 20 Jahre gab, war da trotzdem noch so ein Gefühl von Pioniergeist. Und ich vermisse Singapur an sich, diese bunte Mischung von Kulturen und Möglichkeiten einzutauchen, Farben, Formen, Festivitäten, Essen, Gerüche. Die Erinnerungen sind mir nach wie vor sehr viel wert und das trage ich in meinem Herzen.
Kannst du dich an Orte in Singapur erinnern, die du besonders gerne mochtest?
Wir waren als Familie viel unterwegs, waren viel wandern uns haben uns viel angeguckt. Wir sind ja kurz nach der Wende aus Dresden in die große weite Welt gekommen, also das war für uns eine Riesenveränderung – die Möglichkeiten, die es gab. Wir sind viel gereist in der Zeit und haben versucht, alles mitzunehmen, was irgendwie ging. Es gab eine deutsche Bäckerei auf dem Weg zum Flughafen. Werner’s Oven war das. Das war ein super beliebtes Ausflugsziel, da sind wir total gerne hin, weil es da Schwarzbrot gab, was es nirgendwo anders gab. Total verrückt, wenn man darüber nachdenkt, aber wir sind manchmal einfach zum Flughafen gefahren, weil das mit den Aquarien und den Wasserspielen und Flugzeuge gucken ein sehr schönes Ausflugsziel war. Wir waren auch wandern im Nature Reserve in Bukit Timah, baden an der East Coast und auch den Zoo mochte ich total. Auch Little India, Sentosa und Pulau Ubin waren beliebte Ziele.
Wie glaubst du hat deine Zeit in Singapur und an der GESS dein weiteres Leben geprägt und beeinflusst?
Was ich mitgenommen habe aus der Zeit, sind eine große Offenheit und Neugierde auf die Welt und auf Menschen. Und auch dieser Gemeinschaftssinn. Ich glaube, das ist tatsächlich etwas, was wir in der Schulzeit miteinander entwickelt und voneinander gelernt haben. Und was ich auch prägend fand, und das habe ich damals schon als kleines Kind wahrgenommen, war, dass es keine Klassen- oder Standesdünkel gab. Da waren sehr unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen familiären und finanziellen Hintergründen an der Schule. Es gab viele, wo die Eltern bei Lufthansa oder Siemens oder irgendwelchen anderen großen deutschen Firmen gearbeitet haben. Mein Papa hat in einer einheimischen Firma als Mikroelektroniker gearbeitet. Aber das war nie Thema und das ist schön, einfach den Menschen zu sehen und die Potenziale und Qualitäten, die jede und jeder Einzelne hat. Der Mensch stand im Fokus.
Was hast du an der GESS gelernt, was hast du für dein Leben mitgenommen?
Dass man als Mensch einfach interkulturelle Kompetenzen mitnehmen konnte aus der Zeit. Mein Englisch ist ein bisschen eingerostet, ich bin nicht mehr super fit in Aussprache und Sprechen, aber ich habe keine Angst, einfach auf Menschen zuzugehen, den Mund aufzumachen und miteinander in Kontakt zu kommen.
Und auch damals war uns das voll egal. Wir haben uns mit Händen und Füßen unterhalten, wie das Kinder halt machen. und das hat funktioniert. Man ist einfach frei von der Leber weg auf Menschen zugegangen.
Was macht die GESS so besonders für dich?
Dadurch, dass die deutsche Community in Singapur damals sehr klein war, war das Gemeinschaftsgefühl sehr stark. Im Kleinen hat sich das auch in der Schulgemeinschaft widergespiegelt. Das Verhältnis zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen war sehr familiär, es war ein sehr nahes, ein sehr vertrauensvolles. Das Verhältnis der Schüler/-innen untereinander über die Klassenstufen hinweg war sehr freundlich und offen, ein wertschätzendes Miteinander. Das waren Besonderheiten der Schule. Ich hoffe, dass das nach wie vor so gelebt wird.
Und was die Schule auch noch ausgezeichnet hat, waren die wirklich vielen coolen Aktivitäten, Exkursionen, die Interaktion mit den verschiedenen Communities und zig Feste und Ausflüge.
Hast du Ratschläge oder Erfahrungen oder Tipps, die du mit unseren derzeitigen Schüler/innen teilen möchtest?
Genießt die Zeit! Saugt alles auf an Erfahrungen, an Wissen, an Erlebnissen. Bleibt offen, bleibt neugierig. Rückblickend kann ich mit auf den Weg geben, dass es für uns alle, für euch, für mich, eine prägende und besondere Zeit ist und auch ein Privileg, diese Möglichkeit zu haben an einer Schule in so einem tollen Land. Singapur ist sehr ambivalent, aber dadurch auch sehr spannend. Schätzt das und nehmt wahr, was euch für eine tolle Chance geboten wird. Das ist besonders!